Montag, September 08, 2025

Woche 36/2025: Bildungsauftrag & Schreibübung - Ottokar Domma

Herr Kowski und ich plauderten neulich über Kinder- und Jugendliteratur, und wir stellten fest, dass er Ottokar Domma nicht kannte. 

Ottokar Domma hieß eigentlich Otto Häuser und schrieb seit den späten 1960er Jahren über den (Schul-)Alltag in der DDR. Protagonist war ein Schüler gleichen Namens, der mit seiner direkten, ehrlichen Art den "gesellschaftlichen Verhältnissen" den Spiegel vorsetzte. Niemals wirklich systemkritisch, aber anarchisch genug, um mich als Kind – und später als Erwachsenen – zu amüsieren. Ob solche Geschichten auch heute noch funktionieren, dachte ich mir. Und beschloss, es mal auszuprobieren, indem ich als Schreibübung versuchte, eine Geschichte im gleichen Duktus über ein aktuelles Thema zu schreiben. Kurz sollte es sein und mich nicht mehr als eins, zwei Stunden kosten.

Normalerweise bin ich nicht so der Testtextevorzeige aber, dieses Schema, dass ich in Sachen Zeichnung auf Insta fand, läßt sich auch sehr gut auf alle andere kreative Arbeit ausweiten:

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Neulich haben ich in der großen Hofpause beschlossen, dass ich meine Hausaufgaben lieber wieder ganz alleine machen, und das kam so.

Es waren nur noch drei Wochen bis zu den Sommerferien. Also hatte Frau Perlich verkündet, dass es sich nicht mehr lohnte, mit einem neuen Thema anzufangen. Wir durften also leise Käsekästchen spielen, die Unterschriften unserer Eltern üben oder dem gemeinen Mattes so lange Papierkugeln an den Kopf werfen, bis er vor Wut ganz rot im Gesicht wurde. Solange wir all das leise taten.

Währenddessen las Frau Perlich. Sie ist ja nicht nur schlau, sondern auch Deutschlehrerin. Ihre Bücher hießen „Abseitstore der Liebe“, „Heiße Blicke am Buffet“, „Axtmord am Tengernsee“ oder hatten andere romantische Titel.

Frau Perlichs Bücher sind meistens bunt. Also nicht nur vorne und hinten, sondern sogar oben und unten an der Seite. Anscheinend muss Papier mittlerweile sehr teuer sein, wenn man jetzt Blätter nicht nur hinten und vorne bedruckt. Frau Perlich sagte, man nennt das Farbschnitt. Ole und ich beschlossen in der nächsten Stunde, die Wörterbücher, die wir uns ausleihen durften, auch mit einem Farbschnitt zu verschönern. Frau Perlich war aber nicht so erfreut, wie wir dachten. Dabei hatte ich schöne Blumen gezeichnet und Ole ganz viele Körperteile, die wir im Biologieunterricht kennengelernt hatten und die man normalerweise nicht so häufig sieht. Frau Perlich sagte: „Ihr bringt mich noch ins Grab!“, aber das stimmte nicht. Es war eine Ambulanz, die sie ins Krankenhaus brachte. Sie hatte sich ihren Daumen in der Tür zum Lehrerzimmer eingeklemmt.

Seitdem hatten wir Herrn Mompe als Vertretungslehrer. Er war darauf überhaupt nicht vorbereitet. Er hatte sich nichts zu lesen mitgebracht, auch sollten wir plötzlich Unterricht machen. Frau Perlich lag wohl immer noch im Krankenhaus oder konnte mit ihrem kaputten Daumen Herrn Mompe keine Nachricht schreiben, um ihm zu sagen, wie das bei uns so läuft.

So nestelte Herr Mompe am ersten Tag bei uns an seiner Anzugsjacke herum, um sein Handy zu finden. Die Taschen waren sehr ausgebeult. Er war der einzige Lehrer, der so eine Jacke trug. Aber Herr Mompe ist sehr alt und wahrscheinlich stammt die Jacke noch aus der Zeit, als Lehrer immer Anzüge trugen und gezwirbelte Schnurrbärte und Pickelhauben. Irgendwann hatte dann Herr Mompe sein Handy gefunden. Mit der Klassenbuch-App überprüfte er, ob wir alle da waren. Das hatte schon lange kein Lehrer gemacht. Normalerweise freuen sie sich eher, wenn mal ein paar von uns fehlten. Als Herr Mompe meinen Namen aufrief, wurde er blass. "Ottilie... DOMMA?!", fragte er. "Das bin ich.", sagte ich stolz. Denn ich mag meinen Namen.

"Dein Vater....", begann Herr Mompe seinen Satz und Kevin rief "... arbeitet im Radio." Und alle gackerten wie verrückt. Nur Herr Mompe nicht, der stöhnte.

"Noch einer von denen.", sagte er. Ich habe Papa abends gefragt, ob er Herrn Mompe kennt, und er sagte, Herr Mompe war früher Referenradar bei ihm in der Klasse. Dabei sah Herr Mompe gar nicht so aus, als wenn er wüsste, ob in der Nähe Schiffe oder Flugzeuge sind. Auch vom Deutschunterricht schien er wenig zu verstehen. Wir sollten einen Aufsatz über "Was wir werden wollen" schreiben, dabei hatten wir das bei Frau Perlich schon gemacht. Also durfte sich jeder ein Thema aussuchen.

Ich sagte, ich möchte einen Vortrag über Kai schreiben. Kai ist ein Computerprogramm im Internet und weiß schlichtweg alles. Herr Mompe guckte etwas verschreckt, als wenn er daheim heimlich eine Roboterfrau im Schrank hätte, von der niemand etwas wissen dürfe. Ich fand jedenfalls Kai toll. Ich brauchte ihn nur zu fragen, wer er sei, und bekam einen langen Text zurück. Wie bei Frau Konrad, unserer Frisörin. Nur mit mehr Fremdwörtern.

Jedenfalls habe ich dann zu Kais Antwort selbst noch ein paar eigene Sätze hinzugefügt. Denn Kai wiederholte sich ständig. Trotzdem denke ich, dass er sehr nützlich sein kann bei Dingen, die früher nur Menschen selbst machen konnten: Schreiben, Übersetzen, Bilder erkennen, Schach spielen und sich über verspätete Züge aufregen. Es gibt sogar Kais, die malen wie Picasso, andere schreiben Gedichte wie Goethe. (Also fast. Goethe hat nie ein Gedicht über das Super-Mario geschrieben, sondern nur über den Zauberlehrling Harry Potter.)

Als ich meinen Aufsatz vorstellte, machte Herr Mompe ein Gesicht, als gäbe es mittags wieder diesen fiesen Brokkoliauflauf in der Schülerspeisung. Aber es lag wohl eher daran, dass Kai sehr viel Strom verbraucht, dadurch die Umwelt verdreckt und wenn er keine Antwort weiß, schlimmer lügt als Ilyas große Schwester Inga aus der 10a, die heimlich vapt . Auch schien Herr Mompe Angst um seine Arbeit zu haben. Also fragte ich Kai nun nichts mehr. Schließlich möchte ich nicht, dass unser Klassenbuch irgendwann mal von einem intelligenten Kühlschrank geführt wird.

3 Kommentare:

Adrian hat gesagt…

Jap, funktioniert noch. Ich habe geschmunzelt.
Herzlichen Dank für's teilen!

loosy hat gesagt…

Hehe, sehr schön! Witzigerweise habe ich nach den ersten paar Sätzen aber nicht mehr Ottokar im Ohr sondern Ella aus den Büchern von Timo Parvela. Ich meine mich daran zu erinnern, dass ich damals beim Vorlesen von Ella an Ottokar denken musste. Scheint ein ganz eigenes Genre zu sein, diese Art von Kinderbuch.

r. hat gesagt…

Hach! Vielen Dank für Eure Rückmeldungen. Da wird mir ganz warm ums Herz... Ella wird hier auch fleißig gelesen. Ich kenne aber nur Band 1. Das muss ich unbedingt mal ändern!